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Sauer, Herr Gegenbauer? (Welt am Sonntag, 4.3.2012)

Außergewöhnliche Essig-Kreationen aus Tomaten oder Paprika haben den Wiener Erwin Gegenbauer weltberühmt gemacht. Ein Portrait von Manfred Klimek

Am Ende des langen Rundgangs durch die Räumlichkeiten der Gegenbauer-Liegenschaft in Wien Favoriten - ein Bezirk, den man mit Berlin-Neukölln vergleichen kann - führt der Firmeneigentümer in den Keller vorbei an Fässern und Glasbehältern, hin zu einem Gewölberaum mit nackten Ziegeln. Links neben der Tür steht ein Regal mit mehreren Leisten. Auf jeder Leiste liegen einige runde, nicht identifizierbare Gegenstände, die mit Tüchern zugedeckt sind. Überjeden dieser Gegenstände hat Gegenbauer ein geräumiges Drahtnetz gespannt. Was ist darunter? "Das sind Käse, sagt Gegenbauer, "sehr alte Käse. Ich stelle käse her und experimentiere mit ihnen."

Erwin Gegenbauer, Essigbrauer, Kaffeeröster und Aromenexperte, nimmt eines der Drahtnetze beiseite und entfernt den fleckigen Lappen, der über dem Käse liegt. Der Laib ist eingefallen, er sieht aus wie eine Mumie in einer sizilianischen Katakombe. Dann schneidet Gegenbauer in den staub hinein, kleine Tierchen verlassen panisch das Milchprodukt. Wir reden immer noch über Lebensmittel. "Dieser Käse hier", sagt Gegenbauer, "ist fünf Jahre alt. Und er schmeckt hervorragend."

Wenig später - von allen Tierchen befreit und auf Weißbrot mit einem glas Süßwein verkostet - mutiert das völlig vergammelte Etwas zur Aromabombe. Morbide Deftigkeit, olfaktorisch nicht mehr ins Gewicht fallend. Der erste Biss braucht eine gewisse Überwindung, aber Gegenbauers Versprechen, es handle sich um eine Geschmackserweiterung, wird gehalten. Die nickende Bestätigung kommentiert er mit einem müden Lächeln. War ja klar, was sonst?

Erwin Gegenbauer und seine Welt. Davon gibt es einiges zu erzählen. er hat sich sein eigenes Reich der Aromen geschaffen; erdacht mit Nase und Gaumen, entstanden in den Gebäuden des elterlichen Unternehmens, das einmal zu den größten österreichischen Betrieben des Einlegegewerbes zählte. Gegenbauers Vater füllte noch in den 80er Jahren täglich Tausende Gläser Essiggurken ab. Die Firma hatte 600 Mitarbeiter. Heute hat sie noch sieben. Gesundgeschrumpft.

Gegenbauers Großvater Ignaz war ein sogenannter "Sauerkräutler", jemand, der Kraut einlegte und dieses aus Fässern heraus auf Märkten verkaufte. Sauerkraut galt nach dem Krieg als wertvoller Vitaminspender. Das war die Zeit, als es im Winter keine Orangen gab.

Gegenbauers Vater erfand den Ölpfefferoni, den es auch heute noch an vielen Wiener Würstelständen zu kaufen gibt. Er installierte eine riesige Abfüllanlage in der kommunistischen Tschechoslowakei - Kooperation mit dem Klassenfeind, ein unternehmerischer Geniestreich - und flutete den Lebensmittelhandel mit verglastem Gemüse. Den Stand am ehrwürdigen Wiener Naschmarkt gab die Familie auch in Zeiten der Expansion nie auf.

Am Naschmarkt lernte Gegenbauer, Geschmack zu unterscheiden, Geschmack zu finden und ihn herzustellen. Sein Vater brachte ihm alles bei, damit er die erfolgreiche Firma rasch übernehmen konnte. Und der Sohn kam relativ früh an die Hebel. Vor zwanzig Jahren, im Alter von 31 Jahren, folgte er dem ausgebrannten Vater nach, der Tag für Tag wie ein Geisteskranker schuftete, um die Preisvorgaben der Supermärkte realisieren zu können. Das alles hatte nichts mehr mit Genuss zu tun. So ließ Erwin Gegenbauer die Zügel los. Und baute sich sein eigenes Reich, ein neues Leben, in dem alles kleiner, feiner und genauer sein sollte. Mit Sinn. Und ohne Stress.

In den ersten Tagen dieser neuen Freiheit, sagt Gegenbauer, habe er vor allem "Zeit geerntet". Er suchte die Identifikation mit den Produkten, die er nun anfertigen wollte; er flüchtete von der industriellen Fertigung, ging zurück zum Handwerk, das er als Garant für eine prosperierende Wirtschaft sieht. "Ich bin ein Wertkonservativer", sagt Gegenbauer, "eine Einstellung, die heutzutage selten geworden ist."

Nachdem er die industrielle Produktion aufgegeben hatte, begann Gegenbauer mit Essigen zu experimentieren; Essige zu komponieren wurde zu seinem Spleen: Himbeeressig, Tomatenessig, Balsamessig aus Golden-Delicious-Äpfeln, Gurkenessig, Spargelessig, Brombeeressig, Essig aus Aroniabeeren, Honigessig, Granatapfelessig, Feigenessig, Safranessig, Paprikaessig, Melonenessig oder Zitronengrasessig. Gegenbauer stellt zwischen 50 und 60 Essige her, darunter auch aus Bier gemachte Essige und sogenannte Digestif-Trinkessige, die er sieben Jahre lang in alten Fässern reifen lässt. Dass diese Essige zum Kult wurden, verdankt Gegenbauer der internationalen Spitzengastronomie.

Ganz am Anfang seines neuen Lebens stand Erwin Gegenbauer eines Samstags am Wiener Naschmarkt, als ein Mann vorbeikam und nach einem besonderen Essig fragte. Gegenbauer verkaufte ihm einen Himbeeressig und empfahl, die sauer-fruchtige Köstlichkeit doch auch in der Küche einzusetzen. Zum Aromatisieren der Soße beispielsweise. Der Mann, ein bekannter Wiener Zahnarzt, kam Tage später zurück und war begeistert. Das stieß ein Tor auf, Gegenbauer wusste von nun an, wo seine Essige hingehören in die Spitzengastronomie, die auch den Ruf der Produkte weitertransportieren kann. Und so brachte er seine sauren Flüssigkeiten zu den besten Köchen Österreichs, die diese wiederum an die besten Köche Deutschlands weitergaben, die diese wiederum nach Frankreich brachten. Von dort fanden sie den Weg in die USA. Heute kochen Alain Ducasse, Thomas Keller und auch der Berliner Michael Hoffmann mit Gegenbauers Essigen. Ein weltweiter Siegeszug, der Gegenbauer viel Ehre, aber wenig Geld einbringt. Denn er weigert sich, sein Unternehmen wachsen zu lassen, er will die kleine Klitsche bleiben, die er ist. Statt zu expandieren, vertieft er lieber das Wissen um seine Produkte.

Mit dem Tomatenessig war er zum Beispiel lange nicht glücklich. Es gibt 500 Sorten Tomaten, und Gegenbauer suchte jahrelang, bis er die richtige fand. Sie wächst im burgenländischen Seewinkel, einem Rückzugsgebiet autochtoner Gemüsesorten. Die Tomate gibt einen gelben Saft, den Gegenbauer in klassischer alkoholischer Gärung zu echtem Tomatenwein macht. Reinsortige Bakterienkulturen wandeln den Wein dann in Essig um. 500 Liter entstehen davon im Jahr. Mehrt gibt es nicht, obwohl Gegenbauer mit geringfügig mehr Aufwand und einer funktionierenden Vertriebsstruktur gut die zehnfache Menge verkaufen könnte. Doch daran hat er kein Interesse. Viel lieber schreibt er Rezepte, wofür man seinen seltenen Tomatenessig verwenden könnte. Etwa für die klassische italienische Minerstrone.
Seinen Paprikaessig hat er für das Gulasch erfunden, den Apfelbalsam für die Linsen, die man als Beilage zum Sonntagsbraten serviert. Gegenbauers Großmutter hat noch kochen gelernt, sie stand täglich für 30 und mehr Personen in der Küche. Von ihr hat Gegenbauer auch erfahren, wie man Reste verwertet. Dass man aus einem kalten Schweinsbraten ein Gröstel machen kann. Und das Linsen und Bohnen nach jedem Aufwärmen noch besser schmecken, wenn man sie mit ein wenig gutem Essig verfeinert.

Erwin Gegenbauers Vater war ein Geschmacksfetischist. Diese Besessenheit hat er an seinen Sohn weitergegeben. Der Junior lernte spielerisch: Der Vater brachte verschiedene Gurken nach Hause und der Sohn musste herausschmecken, um welche Sorte es sich jeweils handelt. Als wollte der Vater den Sohn für "Wetten, dass..?" trainieren.

Doch mit Essig hatte der Vater nicht viel am Hut, Essig war nur die Ergänzung der Einlegeware. Erst der Sohn machte die Einlegeware, die Früchte , die Gemüse, zur Ergänzung seiner Essige. Auf den Essig kam Gegenbauer bei einer Italienreise. Er verkostete verschiedene Weinessige, darunter auch teure Balsamico. Wieder zu Hause, ließ er sich aus der Steiermark die besten Apfelessige bringen. Was mit Äpfeln funktioniert, dachte sich Gegenbauer, muss auch mit anderen Früchten klappen. Und er wunderte sich, dass noch kein anderer vor ihm auf diese Idee gekommen war.

Vor einigen Jahren wurde Erwin Gegenbauer der Essig zu wenig, und er begann, seine Kenntnisse auf anderer Produkte zu erweitern. Auf Kaffee zum Beispiel. Oder Fruchtsäfte, die ja die Basis für seine Essige bilden. Und zuletzt über Öl, das mit dem Essig einen jahrhundertealten Verbund eingeht. So entstanden außerdem eine Kaffeerösterei, eine Saftherstellung und eine Ölmühle.

Beim Öl geht Gegenbauer denselben Weg, den er schon beim Essig eingeschlagen hat: Er spielt mit den Aromen. Er schafft es, aus jedem noch so kleinen Kern Öl zu pressen. Zum Beispiel aus Himbeerkernen, die er aus dem Trester holt. So hat er ein Verfahren entwickelt, die winzigen Kerne aus dem gepressten Fruchtfleisch zu lösen, eine Art Metallsieb, das die Ausbeute durch immer kleinere Löcher bürstet, bis kaum noch etwas übrig ist. Die Ausbeute eines Tages Arbeit? 1,5 Liter Öl. Verdient man damit Geld? Nein.

Warum macht er es dann? Erwin Gegenbauer sitzt in einem unaufgeräumten Büro und blickt auf die hässliche Straße hinaus - hier ist vom Charme Wiens wenig zu spüren. "Die Fruchtkernöle", sagt Gegenbauer, "sind meine Passion. Ich will aber um Gottes willen nicht ins Künstlerische gedrängt werden, das hat schon alles einen Sinn."

Und dann macht er sich einen Espresso, den er mit ein paar Tropfen Himbeerkernöl verfeinert. "Die Crema", sagt Gegenbauer, "ist ja das Öl der Kaffeebohne. Ich habe einfach zusammengetan, was zusammengehört." Erwin Gegenbauer nennt seine Kreation "Oilesso", er sieht sie als Antwort auf die, wie er es formuliert, "Barista-Unkultur". Den Kaffee kippt er in einem Schluck hinunter.

"Die Natur schenkt uns unglaublich viele Aromen", sagt Erwin Gegenbauer, als er seinen Besuch zur Tür begleitet, "aber wir haben verlernt zu entdecken, welche Vielfalt auf uns wartet. Schreiben Sie das bitte auf."