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Der Essigvater (Tages-Anzeiger Zürich, 1.12.2012)

Erwin Gegenbauer zeigt, dass Essig eine Delikatessesein kann. Ein Besuch in seiner Wiener Essigbrauereigehört für Gourmets fast zur Pflicht.

Es ist ein wenig wie in einer feierlichen Messe. Zehn Männer stehen, Mund geöffnet, im Kellergewölbe und warten, bis ihnen eine Flüssigkeit eingeträufelt wird. Erwin Gegenbauer, der mit einer Pipette die Runde macht, hat den passenden Übernamen: Essigpapst wird er auch genannt. Gourmets aus der ganzen Welt pilgern zu seinen Produktionsstätten im 10. Bezirk Wiens, um Essig zu verkosten und zu sehen, wie er gebraut wird. Heute sind zehn Männer aus der Innerschweiz hier, ihr Kochclub unternimmt alle zwei Jahre eine Gourmetreise. Im Gegenbauer-Keller probieren die Mitglieder des Kochclubs nun Himbeeressig, Golden-Delicious-Balsam oder edelsauren Trinkessig, Gegenbauer erklärt ihnen das jeweilige Produkt.

Gelagert in Glasballons im Keller. Rund fünfzig Essigsorten bietet die Firma Gegenbauer an, vergoren werden Säfte von Äpfeln, Trauben, Kirschen, Beeren, aber auch von Gurken und Spargeln. Die Balsamico-Essige lagern in Fässern auf dem Dach, die anderen in grossen Glasballons im Keller. Früher standen hier Fässer mit Sauerkraut und Salzgurken. Erwin Gegenbauers Grossvater Ignaz hatte die Firma 1929 gegründet; sein Sauerkraut und die Salzgurken verkaufteer am Wiener Naschmarkt. Die nächste Gegenbauer-Generation baute
das Geschäft aus und belieferte vor allem Supermarktketten. Als Erwin Gegenbauer die Firma 1992 von seinem Vater übernahm, hatte sie 620 Mitarbeiter, Produktionsstätten in Tschechien und Deutschland.

«Das war die Herstellung von Totenmitteln statt von Lebensmitteln», kommentiert Gegenbauer. Schnell war klar, dass ein Betrieb, der auf Masse hinarbeitet, nichts für ihn ist. So besann er sich auf seine Leidenschaft für guten Wein,zu der auch – gewollte und ungewollte – Experimente mit der Essigherstellung gehören. 1992 bot er erstmals Essig im Laden auf dem Naschmarkt an, damals noch neben dem traditionellen Kraut und Einmachgemüse. Die meisten Kunden schüttelten den Kopf. «Eines Tages kaufte ein Mann meinen Himbeeressig, und am nächsten Tag stand er wieder da», erinnert sich Erwin Gegenbauer. «Er erzählte, was er damit gekocht hatte – ein Schlüsselerlebnis. Endlich konnte ich als Lebensmittelproduzent mit meinen Kunden einen Dialogführen.»

Fabriken im Ausland verkauft Erwin Gegenbauer stellte um auf Essig, verkaufte alle Produktionsbetriebe ausser dem Stammhaus. Heute zahlen seine Kunden 14 Euro für einen Viertelliter Fruchtessig. Oder über 20 Euro für die gleiche Menge Balsamessig, einige Sorten sind in seinem Shop ausverkauft. 33 Euro kostet gar der neunjährige Balsamessig aus Muskatellertrauben, ein wunderbares Würzmittel, auch für Nachspeisen, caramelfarben, aber ziemlich flüssig. «Den zähflüssigen dunklen Balsamico, wie man ihn heute kennt, gibts
nur, wenn man nachhilft mit Verdickern und Farbe», sagt Gegenbauer. Wer bei ihm eine Führung macht, wird auch mit Hintergründen der Lebensmittelproduktion konfrontiert. Essig sei heute oft mit Zucker oder Aromen versehen. «Auch sogenannte natürliche Aromen werden künstlich gewonnen, Himbeeraroma etwa aus Sägespänen.» Bei Gegenbauer selber, versichert er,
kommt nichts in die Flasche, was nicht zum Vergären der Säfte nötig ist. Die erste Gärung, die alkoholische, macht er selber, aus Säften von hochwertigen Rohstoffen. Nur Trauben lässt er von Winzern vergären, so, dass der Alkoholgehalt im Wein nicht zu hoch ist und entsprechend der Essig nicht zu sauer wird. Denn: Bei der zweiten Gärung, dem eigentlichen Essigbrauen, wird fast aller Alkohol in Säure umgewandelt.

Bakterien sind sein Kapital Das Essigbrauen hat Gegenbauer in jahrelanger Arbeit perfektioniert. So existierenheute etwa für jede Frucht eigene Essigsäurebakterien. Sie lagern in Plastikkanistern in der Brauerei und als Rückversicherung auch in einem Lagerhaus. «Die Bakterien sind mein Kapital», sagt Gegenbauer. «Sie kennen ihre Früchte und wandeln darum nur den Alkohol in Säure um, jedoch nicht den Restzucker.» Das Ziel: Die Frucht soll ihr Aroma möglichst gut entfalten können – entsprechend sind viele Gegenbauer-Essige
sortenrein.

Zutaten von hoher Qualität, lange Erfahrungswerte, kleine Chargen – das alles hat seinen Preis. «Wir stellen hier ein Luxusprodukt her», sagt Gegenbauer. Weil er nicht nur betuchte Kunden bedienen will, hat er seinen Hausessig lanciert. Auch da geht es um natürliche Zutaten, jedoch wird der Grundessig aus Weizenbrand hergestellt und dann mit Fruchtessig und -konzentrat veredelt. Entstanden ist ein Essig, der für die tägliche Salatsauce gedacht ist. «Um Gourmetprodukte zu schätzen, muss man auch im Alltag gute Produkte konsumieren», sagt Gegenbauer, «das schult den Gaumen.» Zu guten Produkten gehört für ihn auch, dass möglichst viel des Rohstoffs verarbeitet wird. Entstanden ist so eine Rarität, die Gourmets zu Lobgesängen verführt: Kernöl von Himbeeren, Johannisbeeren, Aroniabeeren und Äpfeln. Es wird in 30-Milliliter-Flaschen mit Pipette verkauft und soll ein Gericht tropfenweise verfeinern. «Johannisbeerkernöl über ein gegrilltes Steak», schwärmt Gegenbauer, «einfach wunderbar.»

Heizen mit Treber-Pellets Acht Jahre hat er getüftelt, bis er es schaffte, die Kerne aus dem Trester, der bei der Essigherstellung entsteht, weiterzuverwerten. Der Trester wird in mehreren Durchgängen gesiebt, zum Schluss werden die Kerne mit einem Gebläse von letzten Fruchtresten befreit. Eineinhalb Tonnen Himbeeren braucht es für einen Liter Kernöl. Sind die Kerne
in der Wiener Ölmühle einmal gepresst, ist die Rohstoffverwertung noch nicht zu Ende. Gegenbauer erzählt zum Schluss der Führung, dass er die Pellets, die die Wiener Ölmühle nach dem Pressen ausspuckt, weiterverwenden will, als Heizrohstoff für seine Produktionsräume. Unabhängig werden von grossen Energielieferanten will er. Unabhängig von der Industrie. Ein Stück schmackhafte Nachhaltigkeit mitten in Wien.

Text: Esther Kern